Die Betonteile des gesprengten Bunkers liegen heute immer noch in der Treptower Kiefholzstraße. Auf dem Bunkervorplatz wurden Gärten angelegt. Ich erwähne das nur, weil ich die ganzen Jahre, in denen die Mauer der DDR stand, dort nie hinkommen konnte, denn es lag im Sperrgebiet der DDR-Grenze. Doch heute, wo es keine DDR mehr gibt, und ich dorthin kann, fahre ich sehr oft da vorbei und ich erinnere mich immer wieder an die Erlebnisse meiner Kindheit. Am gleichen Tag kamen die ersten deutschen Soldaten als Kriegsgefangene aus der Innenstadt die Kieferholzstrasse entlang in Richtung Osten, bewacht wie Schwerverbrecher. Eine Kolonne die nicht endete, verdreckte und zerrissene Uniformen, Blut verschmierte und verstaubte Gesichter, den Blick zur Erde gerichtet, als würden sie sich schämen. Sie haben doch nur ihrem Volk gedient, viele davon sogar unter Zwang. Was mochten in ihren Köpfen für Gedanken kreisen? Wurden nicht viele von ihnen um ihre Jugend und ihre Ideale betrogen? Wie viele ich dort so marschieren sehen musste, kann ich heute mit Sicherheit nicht mehr sagen. Ich machte mir Gedanken darüber wo jetzt alle diese Männer hingebracht würden? Warum lässt man sie nicht einfach laufen, sind sie nicht schon genug bestraft? Einige von ihnen sind doch sicher in Berlin zu Hause und der Krieg ist aus. Warum werden diese Soldaten noch verschleppt und wohin? Wie wollen die Russen diese Leute nur mit Essen verpflegen? Alle, so dachte ich, werden bestimmt verhungern, denn soviel Essen könne die Russen gar nicht aufbringen. Ich wundere mich hier immer wieder, wie ich mich sogar an verschiedene Dinge erinnern kann, die mir zu der Zeit durch den Kopf gingen, wie z. B.: was denken diese Männer nun alle, die so tapfer bis zuletzt gekämpft haben. Die braven deutschen Soldaten, die hier in eine unbestimmte Zukunft verschleppt werden. Für mich waren das die traurigsten Kolonnen, die ich in meinem ganzen Leben sehen musste. Ich will es nicht verschweigen, aber ich stand an der Straße und weinte, doch ich weiß heute nicht mehr, warum. Ich war doch noch ein Knirps von knapp 10 Jahren und von allen diesen Männern wusste ich nichts und kannte auch keinen. Vielleicht animierten mich die traurigen Gesichter, die an uns vorbei zogen, Tränen zu vergießen. Oder musste ich an meinen ältesten Bruder denken, der zu dieser Zeit auch an der Ostfront, vermisst war und zu der Zeit 21 Jahre alt war. Es musste noch einige Zeit vergehen, bis wir wieder Lebensmittelkarten bekamen. Bis dahin war es unsere ganze Tätigkeit, zu zusehen, wie und wo wir etwas Essbares organisieren konnten. Mit Bierflaschen und Karbid gingen wir zum Karpfenteich im Treptowerpark Fische fangen. Die Russen haben es uns vorgemacht, nur sie benutzten Handgranaten, die uns nicht zur Verfügung standen. Der erste Bäcker, der nach dem Krieg wieder Brot backte, war in der Karpfenteichstraße. Morgens um fünf Uhr mussten wir Kinder uns schon anstellen. Abwechselnd haben wir da manchmal bis zum späten Nachmittag gewartet. Mehl hatte der Bäcker auch nicht ausreichend, da passierte es sehr oft, dass wir vergeblich anstanden. Dann kam die Zeit, in der wir nicht mehr im Bunker schlafen durften. In der Laube meiner Tante war es auch nicht möglich, so blieb nur noch ein Ausweg: nach Britz zur Großmutter zu ziehen. Zwar war auch ihre schöne Holzlaube abgebrannt, aber ihr wurde ein Behelfsheim hingestellt. Es bestand aus zwei Räumen, Küche und Stube. Wir waren acht Personen, drei Erwachsene und fünf Kinder, die nun in diesen zwei Räumen leben mussten. Das Leben begann, sich langsam zu normalisieren. Es gab wieder Lebensmittelkarten. Die Zuteilungen darauf waren zum Verhungern zu viel, zum satt Essen zu wenig. Da muss ich heute noch meiner Tante ein Kompliment machen. Sie wusste immer, wo sie etwas zu essen besorgen konnte, auch wenn sie dabei einmal auf dem Schwarzmarkt ein Kaninchen kaufte, dem der Kopf und die Pfoten entfernt waren, was bei einem geschlachteten Kaninchen nicht üblich ist und was sich dann als eine Katze oder Hund entpuppte. Gegessen haben wir das Tier nicht. Geschäftstüchtig war sie und brachte immer vom illegalen Schwarzmarkt etwas mit. Handeln war ihr angeboren. Wenn auch Schwarzhandel verboten war, die Strafen waren unerheblich und in Reichsmark leicht und einfach zu bezahlen. Denn eine Zigarette kostete zu der Zeit auf dem Schwarzmarkt zehn Reichsmark. Ein Brot einhundertzwanzig Reichsmark. An so einige Preise kann ich mich noch gut erinnern. Es gab kaum einen Artikel, der bei uns im Haus nicht gehandelt wurde. Sogar die Kripo-Beamten von unserem Revier waren bei uns Kunden. Ich kann mich da sogar noch an einige Namen erinnern, möchte sie aber nicht erwähnen. Ich musste öfters diese Herren mit irgendwelchen Waren beliefern. Aber wir wurden auch sehr häufig von polizeilichen Hausdurchsuchungen belästigt, denn Menschen, die uns missgünstig gesinnt waren, gab es auch und so wurde meine Tante sehr häufig von neidischen Nachbarn denunziert. Wenn das wieder einmal der Fall war, kam mit Sicherheit am Abend einer der Bekannten vom Revier auf ein Schnäpschen vorbei, um so ganz nebenbei in einer Unterhaltung die bevorstehende Aktion zu erwähnen. Doch es wird alles noch viel lesenswerter sein, wenn ich nichts weglasse. Heute könnte es keinen mehr einen Schaden zufügen aber mit Sicherheit würden sie einen guten Ruf verlieren. Ich glaube nicht, falls diese Zeilen einmal doch einen Verleger finden, dass es viele Menschen gibt, auf den alle diese Begebenheiten und Beschreibungen zutreffen. Doch die Hamsterfahrten will und kann ich nicht weglassen, da mir diese Erlebnisse nicht aus dem Kopf gehen und meine Gedanken heute noch stark beschäftigen. So denke ich, haben diese Erfahrungen auch einiges zu meiner späteren Lebenseinstellung, beigetragen. Darum möchte ich es kurz, mit wenigen Worten zusammengefasst, niederschreiben. Viele Sachen waren bei den Bauern sehr begehrenswert und für Tauschgeschäfte gut geeignet, so konnte oft ein gutes Geschäft gemacht werden. Begehrte Artikel waren Arbeitsbekleidung, Wäsche jeder Art, Gardinen, Bettwäsche, Tischtücher, Bestecke, Porzellan, gute Uhren, Teppiche und vieles mehr. Im Einzelnen alles zu nennen, würde mit Sicherheit viele Seiten füllen. Die von uns begehrten Lebensmittel aufzuführen, kann ich mir wohl sparen. Öfters erlebten wir es, dass kein Bauer an unseren Tauschobjekten interessiert war oder wir nicht bei dem Bauern waren, der genau das suchte, was wir an Sachen zum Tauschen bei uns hatten. Leicht war das Organisieren nicht, oft sind wir den ganzen Tag von einem Hof zum anderen gelaufen und haben dann sogar noch unseren Zug verpasst. Im Sommer da war das kein Problem, dann haben wir uns ein Wäldchen gesucht und im Freien geschlafen. Oft auch bei einem Bauern in der Scheune, irgendwo fanden wir immer ein Plätzchen, an dem wir unsere müden Glieder strecken und ausruhen konnten. Selten gab es Schwierigkeiten und wir erreichten unseren Zug fast immer. Es war schon bitter kalt an dem Tag, als uns das Pech verfolgte. Nichts von unseren Artikeln war zum Tauschen geeignet. Die Rucksäcke noch leer, der Zug war weg, am Bahnhof alles verschlossen, ein richtig schwarzer Tag. Am Bahnhof haben wir einen zweiten Pechvogel getroffen. Er machte den Vorschlag, lieber in Richtung Berlin zu laufen, als dort auf dem windigen Bahnhof zu stehen und zu frieren. Vielleicht würden wir unterwegs eine Scheune finden. Die könnte uns Schutz bieten und wenn Heu da wäre, ist es sogar noch ein weiches und warmes Polster. So machten wir uns auf die Beine. Dieser Vorschlag war gut fand auch meine Tante. Es wurde schon dunkel und auf den Landstraßen gab es keine Beleuchtung. Autos gab es zu der Zeit, so gut wie keine. Ab und an kam vielleicht mal ein russisches Militärfahrzeug, doch auch das war selten. So wanderten wir auf der finsteren Landstraße mit schmerzenden Füßen in Richtung Heimat. Gott hat uns einen Engel geschickt, sicher hatte er Mitleid, sonst hätte er nicht unmittelbar neben die Landstraße eine Kartoffelmiete hingestellt, die wir zuerst nur als einen dunklen Hügel erkennen konnten. Der Fremde ging sofort hin, um diesen Hügel in Augenschein zu nehmen. „Wenn wir etwas Glück haben, ist es eine mit Kartoffeln gefüllte Miete.“ Er war der Meinung, wir sollten die Miete öffnen, um nachzusehen, denn sie war nicht geöffnet und die Erde war gefroren. Was mit entsprechenden Werkzug eine Leichtigkeit gewesen wäre, war für uns zu einer grausamen Quälerei geworden. Das Einzige, was wir brauchbares bei uns hatten, war das Taschenmesser des Fremden und sechs Hände. Der Mann zerhackt mit dem Messer die gefrorene Erde und wir gruben mit den Händen weiter. Die Hände sind uns fast abgefroren und schmerzten fürchterlich. Das öffnen der Miete war sehr zeitraubend. Mit Handschuhen zu graben, war unmöglich, aber wir schafften es, ein Loch zu öffnen und wir fanden tatsächlich Kartoffeln. Nun war es uns möglich an die Kartoffeln zu kommen und die Rucksäcke zu füllen. Danach machten wir das Loch wieder zu, gingen zur Landstraße und weiter in Richtung Berlin. Noch einmal musste uns der Engel begegnet sein, so dachten wir es. Er stellte für uns eine nicht verschlossene Scheune auf den Acker links der Landstraße. Die Scheune konnten wir zuerst nur als ein dunkles Gebäude erkennen, aber nicht feststellen, ob es ein Bauernhaus oder ein gesuchter Unterschlupf war. Erst als wir zum Anfassen nahe waren, konnten wir es als eine Scheune erkennen, die sogar mit Heu gefüllt war. Eine Unterkunft, wie man sie nicht besser finden konnte. Total müde und abgespannt habe ich mich im Heu vergraben und bin auch sofort eingeschlafen. Es war am Morgen fürchterlich kalt. Ob ich durch die Kälte wach wurde oder ausgeschlafen hatte, kann ich nicht beurteilen, doch ich habe fürchterlich gefroren. Auch die Erwachsenen waren schon wach. Der Mann forderte uns auf, schnellstens die Scheune zu verlassen und wenn möglich in kurzem Dauerlauf, den nächsten Bahnhof anzusteuern. Das war ein sehr guter Vorschlag, wie sich kurz danach heraus stellte. Lange sind wir nicht gelaufen, da war die Kälte vergessen. Am Bahnhof brauchten wir nicht sehr lange warten, da kam auch schon ein Zug, der nach Berlin fuhr und nicht einmal sehr voll war. Sogar einen Sitzplatz konnten wir finden. Der Zug wurde nur von Bauern benutzt, die nach Berlin zum Schwarzmarkt wollten, weil sie sich da einen noch besseren Handel erhofften. Die Berliner fuhren auf die Dörfer, die Bauern in die Stadt und jeder glaubte, er mache es richtig, um so einen besseren Tauschhandel zu tätigen. Später hatte auch meine Tante Leute vom Land kennen gelernt, die ihre Produkte zu uns brachten. Es war auch kein Vergnügen, im Winter aufs Land zu fahren, zumal die Züge immer überfüllt waren und wir häufig auf den Trittbrettern mitfahren mussten. Oder, was ziemlich gefährlich war, zwischen den Waggons auf den Puffern oder auf den Kupplungen. Viele dieser Teile waren durch defekte Dampfschläuche im Winter vereist und es war unmöglich, einen sicheren Halt unter den Füßen zu finden. Die Angst unter die Räder eines Waggons zu kommen, habe ich selbst erfahren. Meine Füße rutschten auf den vereisten Kupplungen auch einmal ab, doch die starke Hand eines Mannes konnte mich noch fassen und halten, so dass ich mir dann einen festen Stand unter den Füßen suchen konnte Ein etwas älterer Junge, der mit seiner Mutter die gleiche Fahrt - ebenfalls zwischen den Waggons - gemacht hat, hatte nicht die starke Hand eines Mannes in seiner Nähe. Er fiel auf die Gleise und wurde überrollt, wobei ihn ein Bein bis kurz unter dem Knie abgetrennt wurde. Auch diese Fahrten kann ich aus dem Grund niemals vergessen. “Organisieren“, so wurde das Stehlen von Nahrungsmitteln genannt. Qualen erleben, Grausamkeiten sehen, Leid ertragen und alles noch vor meinem 12 Geburtstag. War das eine gute Kindheit? Vieles hatte sich nun schon normalisiert, auch die Schule ging wieder los und darauf habe ich mich riesig gefreut. Nur steckten sie mich altersgemäß in die sechste Klasse, wo ich jedoch fehl am Platz war. Mir fehlte einfach das Wissen. Es war eine Schule, die heute noch existiert, die nicht beschädigt wurde und wo die Kinder mehr Unterricht genießen konnten, als es bei uns Kindern aus dem Zentrum der Stadt möglich war. Einige meiner Klassenkameraden beneideten mich zwar, weil ich schon so viel von Deutschland sehen durfte. Ich hätte gerne auf alle diese Evakuierungen verzichtet und mit den Kindern getauscht, die im Krieg nicht so viel Schule versäumten. Ich habe die Verschickungen nicht als Vergnügungs- oder Abenteuerreisen empfunden. Sicher hätte ich dann besser den Unterricht folgen können, wäre nicht in allen Fächern an letzter Stelle gewesen. Kinder sind grausam, vor allem wenn sie Schwächen bei anderen Mitschülern erkennen. Sie machten mich in dieser Schule zu einem ihrer Prügelknaben. Auch das prägte später mein Verhalten. Ich bekam Angst, die Schule zu besuchen, für mich wurde sie zu einer seelischen Folterkammer. Es ist mir immer schwerer gefallen, den Weg zur Schule zu finden, doch zu dieser Zeit fragte kein Lehrer nach den Gründen meiner Schulschwänzerei, auch meine Mutter nicht. Ich allein hatte nicht die Kraft, mich gegen die Behandlung meiner Mitschüler durchzusetzen. So war die Flucht das einzige Mittel. Ich flüchtete vor den Kindern, Kinder die mich seelisch misshandelten, die mich zum Außenseiter machten. Das ist kein gutes Gefühl für ein Kind, wenn es nicht dazu gehören darf, wenn es keine Freunde findet. Alleine spielte ich auf einem Gelände, wo sich eine Flakstellung befand. Es waren vier Geschütze vom Kalieber 8,8 cm und vier sogenannte Vierlings-Geschütze, ein großer Suchscheinwerfer und ein Horchgerät auf dem Gelände stand. Es ist das Grundstück, wo heute noch, im Jahr 2003, fast 60 Jahre nach allem, die Sendetürme des ehemaligen RIAS-Sender stehen. Das war dann mein Spielplatz, wenn alle anderen Kinder in der Schule waren. Dort wurde auch die ganze gefundene Munition aus dem umliegenden Bezirk hingebracht, entschärft sowie auch gesprengt. Ich habe oft von weitem zugesehen, wie sie dort die Granaten der 8,8 Flakgeschütze unschädlich gemacht haben. Mit einem Jungen aus der Nachbarschaft haben wir dem nach-geeifert. Wir haben die Geschosse (Granaten) von den Kartuschen entfernt und mit dem, in den Kartuschen befindlichen, Stangenpulver (Schwarzpulver in Form von Makkaroni, nur länger) rumgekokelt. Es war ein sehr gefährliches Spiel. In Britz gab es einen Jungen, der im ganzen Gesicht starke Brandverletzungen hatte. Sein Freund kam dort ums Leben. Ich kannte beide Jungs und die Namen habe ich auch bis heute nicht vergessen. Sie gingen in die gleiche Schule, die ich auch besuchen sollte. Mit Waffen spielten wir, gläserne Nebelgranaten, Tränengas, das war dann unser Spielzeug. Da ich die Kinder in der Schule alle nicht leiden mochte, (vielleicht auch aus Neid), habe ich die kleinen Tränengasflaschen in der Schule zerbrochen, um den Unterricht zu stören und die Nebelgranaten geworfen um nicht erwischt zu werden. Vielleicht habe ich das auch nur getan, um Aufmerksamkeit zu finden oder bei meinen Mitschülern anerkannt zu werden. Darauf habe ich bis heute keine Antwort gefunden. Auch in der Familie suchte ich immer Anerkennung. Ich kann mich da noch an Heiligabend erinnern. Weihnachtsbäume gab es noch nicht zu kaufen, den Menschen war es wichtiger, Weihnachten einigermaßen Essen auf den Tisch zu bekommen. Uns Kindern war ein Weihnachten ohne den dazugehörigen Baum kein Weihnachten. Entweder war es das Jahr 1946 oder 1947 - genau kann ich es heute nicht mehr sagen. Fünf Kinder, kein Baum in der Stube, ich war der zweitälteste Junge im Haus, so hielt ich es für meine Pflicht, für einen Baum zu sorgen. Ich suchte mir eine Säge und machte mich auf den Weg, einen Baum zu organisieren. Einen Weg dafür brauchte ich nicht zu suchen, ich wusste, wo ich diese Bäumchen holen kann. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch machte ich mich auf den Weg. Vielleicht lag es daran, dass ich mich entschloss, diesen Baum auf einem Gottesacker zu stehen. Ich stieg über den Zaun, um auf den Friedhof einer Fichte die Krone abzusägen. Mit der stumpfen Tischlersäge machte es erhebliche Mühe, sie klemmte und war kaum zu bewegen, aber “geht nicht, gibt´s nicht!“, dass waren immer die Worte, die ein Nachbar zu mir sagte, die mich mein Leben lang begleitet haben. So sägte ich verbissen, bis die Krone ab war und zu Boden fiel. Voller Stolz trug ich den Baum nach Hause und erntete von allen Anerkennung, was mir viel bedeutete. Der Winter war sehr kalt und Kohlen gab es auch nicht, doch ich hörte von jemandem, der sich seine Kohlen immer vom Gaswerk in der Teupitzerstrasse in Neukölln holte. Die Fahrzeuge, die um die Ecke kamen, haben dabei immer einige Brocken verloren. Die konnten wir dann einsammeln. Doch es waren häufig so viel Leute dort, dass es unmöglich war, überhaupt auf die Fahrbahn zu kommen, nachdem ein entsprechendes Fahrzeug um die Ecke gebogen war. Es war für Kinder sehr schwer, einiger Kohlebrocken habhaft zu werden, Erwachsene waren stärker, da es sogar schon zu Schlägereien kam wegen einige Krümelchen Kohle. So bin ich sehr oft vergeblich von Britz bis nach Neukölln gelaufen, was nach meiner Schätzung, zwischen 6 und 7 km waren. Ohne Kohlen Heim zu kommen, war für mich deprimierend. So kam mir die Idee als der Landwehrkanal zugefroren war, über das Eis aufs Gelände der Gaswerke zu schleichen und mir dort Kohlen zu stehlen, was auch immer gut ging. Doch eines Tages war die Eisdecke nicht mehr so fest und ich bin mit meinem Kohlensack eingebrochen. Ich wollte meinen Sack nicht verlieren und ohne Kohlen heimkommen, so zog mich der Sack fast in die Tiefe. Erst als mein Kopf beinahe unter Wasser war, ließ ich den Sack los und schaffte es, mich aus dem eisigen Wasser des Kanals zu retten und das ohne Hilfe. Total durchnässt lief ich den ganzen Weg bis nach Britz, wobei ich fast erfroren wäre, denn meine Kleidung war zu Eis gefroren und das Laufen war fast unmöglich. Drei Wochen musste ich das Bett hüten und hatte sehr hohes Fieber. Nicht weit vom Garten meiner Großmutter waren die Gleisanlagen der Mittenwalder Kleinbahn. Zu der Zeit nur als eine Art Industriebahn in Betrieb. Auch dort wurde Kohle transportiert. Da habe ich mir die Fähigkeit angeeignet, auf einen fahrenden Zug zu springen und Kohlen abzuwerfen, die ich danach aufsammelte. Das war dann ein Winter, in dem es bei uns keine Probleme mehr mit Heizmaterial gab. Mir wurde dann nachgesagt, ich sei der beste Kohlenklau in der ganzen Gegend. Nachbarn und viele Bekannte kamen zu mir mit der Bitte, mit ihnen zusammen Kohlen zu holen. Ich sollte auf den Zug springen und das heißbegehrte Material nur abwerfen, aufsammeln brauchte ich die Kohlen dann nicht mehr. Sogar diese Tätigkeit wurde dann gerne von anderen für mich übernommen. Vielleicht wurde da schon das Fundamente meiner kriminellen Zukunft gelegt? Einige Dinge werden mir erst jetzt und hier bewusst, vieles hätte ich anders machen können, doch ich wählte immer den Weg mit dem geringsten Widerstand. Ich wollte nie kämpfen, ich hatte immer Angst, Menschen die mir nahe stehen, zu verletzen. Heute denke ich meine Lebenseinstellung war falsch.
Ohne ein Abschlusszeugnis habe ich die Schule verlassen, um eine Lehre als Kunst- und Bauschlosser zu beginnen. Der Meister konnte und durfte mich jedoch nicht ausbilden, da ich mich weigerte, die Berufsschule zu besuchen. Der Chef bat mich händeringend, doch die Schule zu besuchen, er würde mir in allem helfen, ich würde meine Prüfung schaffen und die Schule auch, denn die ist nur einmal in der Woche und da ist genug Zeit, alle Aufgaben zu lernen. Doch um alles in der Welt war ich nicht dazu bereit, jemals wieder eine Schule zu betreten. Somit konnte ich diesen Beruf nicht lernen, aber auch für einen anderen Beruf wäre eine Berufsschule erforderlich gewesen. So blieb ich ein ungelernter Arbeiter. Ich fand dann einen Job bei einem Kartoffelhändler, der seine Ware auf den Wochenmärkten verkaufte. Mit gerade vierzehn Jahren schleppte ich die Kartoffelsäcke von fünfzig Kilo, die ich auf den Verkaufsstand ausschütten musste. Mein Wochenlohn war zu der Zeit 45,00 DM. Ein Jahr habe ich diese Tätigkeit ausgeübt, bevor ich mich aufs Fahrrad setzte und Berlin in Richtung Westdeutschland verlassen habe. Denn in den Jahren 1949/50 war es in unserer Stadt mit einem Arbeitsplatz auch schlecht bestellt. Für Jugendliche gab es zu der Zeit ein staatliches Jugendförderprogramm, was sich “Jugendnoteinsatz“ nannte, bei dem es pro Tag 1,50 DM Unkostenbeitrag vom Arbeitsamt gab. Wir mussten aber einmal in der Woche die Berufsschule besuchen, was ich jedoch nicht wollte. So habe ich dann Berlin den Rücken gekehrt. Im Juni 1950 kam ich nach drei Wochen Fahrt nach Aachen. Mein Geld war alle und ich musste mir eine Tätigkeit suchen. In Alsdorf ging ich zum Arbeitsamt, wo mir eine Stelle im Bergbau angeboten wurde. Da ich kein Geld mehr in der Tasche hatte, habe ich das Angebot angenommen. Es war eine Tätigkeit im Bergbau auf der Zeche Maria-Haupt-Schacht. Ich fand da im zecheneigenen Wohnheim eine Unterkunft. Ich musste erst eine Gedingetauglichkeits-Untersuchung über mich ergehen lassen und bekam dann die Einstellungsunterlagen vom Zechenarzt. Da habe ich das erste Mal die peinliche Erfahrung machen müssen, wie Menschen die nicht lesen können, angesehen und behandelt werden. Ich habe mich wahnsinnig geschämt. Im Wohnheim wurden mir auch einige Papiere zur Unterschrift vorgelegt, die ich dann ohne zu lesen nur unterschieben habe. Es war das erste Mal, dass ich mir vorgenommen habe, lesen und schreiben zu lernen. In 1010 Metern unter der Erde habe ich dann meine erste richtige körperliche Tätigkeit aufgenommen, da war ich noch keine siebzehn Jahre alt. Die Werkzeuge zu dieser Zeit waren für heutige Begriffe als vorsintflutlich zu bezeichnen. Der Abbauhammer (Presslufthammer) war nicht schallgedämpft, auch das Gewicht war enorm, die Bedingungen sind mit dem heutigen Bergbau gar nicht mehr zu vergleichen. Doch es war eine ehrliche, wenn auch sehr harte und schwere Arbeit. Am Ende des Monates war ich sehr stolz, als ich den ersten Lohn in der Hand halten konnte. Wenn ich mich noch richtig erinnere, so lag der Betrag um die 700,- DM Netto. Jedoch zum richtigen Bergmann muss ein Mensch geboren sein, ich war es nicht. 18 Monate habe ich diese Schinderei ausgehalten, dann war es für mich genug. Da ich bedingt durch diese harte Arbeit immer sehr müde war, hatte ich nie das Bedürfnis und die Zeit, Geld auszugehen. Ich konnte von meinem Lohn Einiges sparen. Mein Fahrrad machte ich mir wieder reisefertig, kündigte meine Tätigkeit und fuhr dann mit dem Fahrrad in Richtung Süden, den Rhein aufwärts. Mein verrückter Plan bestand darin, zur Fremdenlegion zu gehen, aber je weiter ich nach Süden kam, umso weiter entfernte ich mich von diesem Vorhaben. Denn mir fiel immer wieder der Krieg ein und das ein Legionär ein Soldat ist und ein Soldat sollte, wenn er den Befehl bekommt, andere, fremde Menschen töten. Menschen die auch ein Recht haben, in Frieden und Freiheit zu leben. So habe ich die Idee, ein Legionär zu werden, aus meinen Gedanken gestrichen. Auf dem Fahrrad sitzen, die Natur betrachten und die Gedanken wandern lassen, das war einfach schön. Ich hätte mein ganzes Leben so weiter fahren können, ohne jemals anzuhalten, ein unbeschreiblich schönes Gefühl, ein Gefühl der Freiheit spürte ich auf dieser Tour. Doch mein Erspartes reicht auch nicht für immer, so musste ich meine Fahrt erst einmal unterbrechen, um mich in meiner Geldbörse zu sanieren, sie etwas aufzufüllen. Es ist mir nicht schwergefallen, eine vorübergehende Arbeit bei einem Bauern im Schwarzwald zu finden, denn so weit war ich gekommen. Mehrere Monate habe ich dort meine Arbeit gewissenhaft ausgeführt und der Bauer war auch mit meinen Leistungen sehr zufrieden, sogar das Kühe melken habe ich gelernt. Doch war das nicht der Traum, den ich als junger Mensch hatte. So habe ich mich nach einigen Monaten von diesen sehr netten Leuten getrennt, um weitere Abenteuer zu suchen. Der Bauer bat mich, noch eine Zeit bei ihm zu bleiben. Es war ihm aber nicht möglich, mich dazu zu überreden. Er gab mir noch zusätzlich einen von mir nicht erwarteten Betrag zu meinem Lohn und packte mir noch ein großes Paket Reiseverpflegung ein. Nun konnte ich meine Reise fortsetzen. Die Freiheit der Straße, die ich kennen lernen durfte, war zu stark und mächtig. Wer das nie kenne lernen konnte, kann das mit Sicherheit nicht verstehen. Sehr oft übernachtete ich im Freien, wenn es das Wetter erlaubte. Auch ist es vorgekommen, dass ich einfach auf ein Polizeirevier ging und mich nach einer Jugendherberge erkundigte und wenn es keine erreichbare gab, bat ich um eine Unterkunft in einer Zelle. Doch in eine solche Situation kam ich nur einmal, dafür wurde mir am Morgen auf dem Revier ein fürstliches Frühstück serviert. In den meisten Fällen brachten mich die Beamten in ein Gasthaus und baten den Wirt, mir für eine Nacht eine Unterkunft zu geben, für einen geringen Betrag, den ich auch in einer Jugendherberge bezahlt hätte. Da ich den Plan, mich bei der Fremdenlegion zu bewerben, aufgegeben hatte, so war es mit meiner Reise in Richtung Süden zu Ende. Doch nun war ich ratlos, denn ich hatte mir keine weiteren Pläne gemacht, wohin ich meine Reise fortsetzen sollte, vielleicht wieder zurück nach Berlin zu Mutter. Doch die Fahrradtour von Offenbach bis Berlin war mir zu weit. So wollte ich mich auf dem Bahnhof erkundigen, wie hoch die Kosten für eine Fahrkarte bis Berlin sind. Um meine phantastische Abenteuerreise, die mit einer Fahrradtour begonnen hatte, mit der Eisenbahn zu beenden. Auf dem Bahnhof wurde ich von einem Herrn angesprochen. Er fragte mich, ob ich eine Arbeit suche. Mir kam es nicht ungelegen und ich sagte zu, nachdem er mir erklärt hat, es handelt sich um die Arbeit auf einem Schaustellergeschäft (einer Raupenbahn), die er an einen Unternehmer nach Freiburg im Breisgau verkauft hat. Und er benötigt jemanden, der sich die Tätigkeit genau ansieht, um sie bei dem neuen Besitzer auszuführen. Ich überlegte mir das Angebot kurz und sagte zu. Denn der Preis für eine Fahrkarte nach Berlin, hätte meine Finanzen zu stark belastet. Zwei Wochen habe ich bei diesem Mann mitgearbeitet, damit ich das Auf und Abbauen des Fahrgeschäftes kennen lernen konnte. Der Lohn, der mir geboten wurde, war nicht sehr hoch, doch es war die Unterkunft in einem Wohnwagen sowie Essen und Trinken, wovon es ausreichend gab, mit inbegriffen. So habe ich einen ganzen Sommer mit diesem Unternehmen den Schwarzwald bereist und kennen gelernt. 50,00 DM in der Woche war der Lohn. Auch das war für mich ein nie zu vergessendes Erlebnis und ich möchte die Zeit nicht aus meinem Leben streichen. Ich denke ein Jahr auf einer Kirmes, (wie Rummelplätze in südwestlichen Teilen Deutschlands genannt werden) zu leben und zu arbeiten, ist eine unvergessliche Zeit. Mit allen Erlebnissen und Erfahrungen, die ich dort machte, könnte ich alleine ein Buch füllen. Von Offenbach bis Lörrach, Konstanz am Bodensee und viele kleine Orte habe ich dadurch gesehen. Nur eine Saison habe ich diese Tätigkeit ausgeübt. Mir wurde vom Chef ein verlockender Vorschlag gemacht. Ich könnte in Freiburg in meinem Wohnwagen wohnen bleiben, mir für den Winter einen Job suchen und im Frühjahr wieder mit reisen und arbeiten. Die Arbeit war gut und hatte mir Spaß gemacht. Doch ich lehnte es ab, auf dieses Angebot einzugehen, setzte mich auf mein Rad und fuhr zurück in Richtung Norden. Das Wetter war nicht mehr schön, Kälte hatte sich schon bemerkbar gemacht, es machte einfach keinen Spaß mehr. Am dritten Tag meiner Fahrt Richtung Norden, sah ich in der Nähe von Karlsruhe, den Zirkus “Williams“ stehen. Tierpfleger auch für das Winterquartier wurden dort gesucht. Nach kurzem Überlegen war ich dann bereit, auch das einmal zu versuchen. Besser als bei diesem Wetter mit dem Fahrrad unterwegs zu sein und wenig Freude zu haben, das sei es jedenfalls. So stand mein Plan fest: Ich ging, um mich bei der Geschäftsleitung über die Bedingungen und die Vergütungen für diese Tätigkeit zu informieren und um mich dort vielleicht zu bewerben. Ich wurde auch nach einem kurzen Gespräch eingestellt und mit meinen Aufgaben vertraut gemacht. Es war kein Traumjob aber doch eine sehr interessante Tätigkeit. Ich habe den Umgang mit Pferden kennen gelernt. Die Tierpflege war keine einfache Sache, sie nahm viel Zeit in Anspruch. Ich lernte sogar die Tiere lieben. Bevor der Zirkus ins Winterquartier ging, wurde noch einmal für drei Tage in einer Kleinstadt im Taunus ein Gastspiel gegeben. So lernte ich auch noch das Auf- und Abbauen eines Zirkuszeltes kennen, was ein richtiger Knochenjob ist. Abgebaut wurde gleich nach der letzten Vorstellung, fast die ganze Nacht wurde gearbeitet. Geschlafen haben wir dann im Zug bei den Tieren. Ich habe nie gewusst, dass sich ein Pferd nicht an der Stelle niederlegt, wo sich ein Mensch hingelegt hat. Es steht bewegungslos und wenn es die ganze Nacht sein sollte, auf einer Stelle. Ich habe dort bei dem Zirkus nur die Wintermonate gearbeitet. So kann ich auch da nicht behaupten, ich bereue diese Zeit. Das Winterquartier war zu der Zeit in Köln, in der Aachener Straße. Zur Karnevalszeit wurden dort im Williamsbau viele Veranstaltungen von Karnevalsvereinen abgehalten und wir hatten da einen nicht unerheblichen Nebenverdienst. Auch am Rosenmontag haben sich verschiedene Vereine Pferde für den Rosenmontagszug gemietet, wo wir Tierpfleger dann als Begleitpersonen die Tiere führen mussten. So habe ich auch da so einige unvergessene Erlebnisse gehabt, Die jedoch nicht wichtig sind, hier erwähnt zu werden. Dort hatte ich einen Kollegen, der sehr gerne seine Freizeit benutzte, um kräftig den Alkohol zu vernichten, womit ich dann auch angefangen habe. Erst war es nur am Wochenende, doch es wurde dann immer öfters, sogar schon mitten in der Woche ein- bis zweimal. Es ist mir aber in den meisten Fällen nicht gut bekommen, ablehnen wollte ich das auch nicht, er war dann meisten sehr verärgert. Um der Trinkerei ein Ende zu machen, habe ich dort meine Stellung aufgegeben. Ich packte meine Sachen, machte mein Fahrrad reisefertig und habe mich von meinem Zirkusleben nach gut vier Monaten verabschiedet. Von Köln ging es in Richtung Osten. Das Wetter war nun auch schon zum Reisen auf dem Rad erträglich. Doch nach Berlin wollte ich nicht. Die Trinkerei machte mich so gut wie pleite und so wollte ich nach dieser langen Zeit nicht zu meiner Familie zurück kehren.
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