Der Himmel am morgen dämmerte noch.
Das störte Esther ganz und gar nicht, da sie dies nicht mehr mit ihren eigenen Augen wahrnehmen konnte; dennoch hielt es sie nicht davon ab, auch vor dem Fenster in ihrem Zimmer zu stehen und ihr Gesicht gegen die Fensterscheibe zu lehnen. Die Scheibe fühlte sich kalt an, was Esther jedoch als wohltuend empfand, da ihr Gesicht glühte.
Sie stand seit jenem fürchterlichen Erwachen nun jeden morgen da vor ihrem Fenster und trauerte nach ihrem alten Leben, als sie den Ausblick aus diesem Fenster noch mit ihren Augen genießen konnte.
Seit vier Monaten lebte sie schon in diesem Zustand, der sich nie wieder verändern sollte, hörte sie noch ihren Augenarzt sagen. Esther, Dein Zustand wird sich nicht mehr verändern. Wir setzten alles Mögliche daran um deinen Sehrest mit dieser Operation zu erhalten, was uns doch leider nicht gelungen ist! Dass Geschehende hallte immer und immer wieder in ihren Ohren nach!
An dem Morgen als der Arzt ihr die Verbände von den Augen entfernen wollte, hörte sie wie die Ärzte um ihr Krankenhausbett herumstanden und aufgeregt miteinander tuschelten. Als ihr die Verbände von den Augen genommen wurden, spürte sie haargenau wie die anderen Ärzte die Luft anhielten. Niemand wagte sich noch zu bewegen, um den Moment des Offenbarens nicht zu versäumen. Esthers Hände bewegten sich pötzlich nach oben zu ihren Augen und sie befühlte das Gesicht. Der Verband war fort, aber sie sah nichts. Es blieb trotzdem dunkel um sie herum. Der Arzt beugte sich zu ihr herunter und flüsterte beinahe unhörbar, na, was siehst Du jetzt?
Nichts, erwiderte sie! Es ist dunkel hier, können sie nicht das Licht anschalten! Der Arzt legte seine Hand auf ihre Schulter und sein Tonfall veränderte sich nicht. Er sprach im Flüstertonfall weiter. Liebes Kind, es ist hell draußen, wir brauchen kein Licht.
Esther schrie laut vor Entsetzen auf und gleich drauf fing sie zu weinen an.
Sie nahm nichts mehr um sich herum wahr, auch nicht als der Arzt ihr eine Beruhigungsspritze verabreichte.
Von da an, saß sie wie versteinert in ihrem Bett und sagte keinen Ton mehr.
Ihre Eltern besuchten sie täglich, doch Esther saß nur da, wie an den anderen Tagen zuvor.
Esther hörst Du mich, fragte eine noch sehr junge Männerstimme. Sie hörte ihn, aber sie konnte ihm dies nicht sagen, weil ihre Stimme ihr versagte.
Der Mann kam jetzt täglich und verarztete ihre Augen.
Eines Tages kam die Mutter und holte sie aus dem Krankenhaus nach Hause und brachte sie in ihr Zimmer. Das war nun vier Monate her und sie hatte sich bis zum heutigen Tag nicht allein aus ihrem Zimmer gewagt.
Jeden Tag aufs Neue stand sie da am Fenster und legte ihren Kopf gegen die Fensterscheibe. Verdrossen dachte sie bei sich, vor vier Monaten fühlte sich die Fensterscheibe noch warm an, also wird es doch bald Herbst.
Sie sah in ihrem inneren Auge die Bäume vor ihrem Fenster stehen. Wie allmählich das satte Grün sich in vielfältige Farbenpracht verwandelte. Die Wiese, die um die Bäume herum angelegt worden war, verlor nun auch ihren Glanz und die Sonne stand nun nicht mehr so hoch. Dadurch wirkten die Schattenbilder der Bäume vor ihrem Fenster gespenstisch. Wie hatte sie den Jahreszeitenwechsel vor ihrem Fenster geliebt und hatte dies vermehrt auf Bilderleinwänden festgehalten. Jetzt waren ihr nur noch die Erinnerungen daran geblieben. Tränen kullerten ihr an den Wangen hinunter. Wie sollte es nur weitergehen?
Da klopfte es an die Tür und ihr Vater trat ein.
Liebes, ich habe heute jemanden mitgebracht. Es ist Frau Fröhlich vom Blindenverein, sie möchte sich gerne mit Dir unterhalten.
Da trat die Frau auch schon auf sie zu und ergriff ihre Hand die den Druck nicht erwiderte. Guten Tag Esther. Ich heiße Frau Fröhlich und möchte Dir in Deiner neuen Lebenssituation gern behilflich sein.
Esther rührte sich nicht von der Stelle und wünschte sich insgeheim, die Dame vom Blindenverein würde gleich wieder gehen. Da sprach die Frau schon weiter auf sie ein.
Der Vater verabschiedete sich indessen von der Dame vom Blindenverein und ging aus dem Zimmer. Nein, dröhnte es in Esthers Kopf, bitte Vati laß mich nicht mit dieser fremden Frau allein!
Sie wollte das nicht hören, was diese Frau ihr zu sagen hatte.
Da vernahm sie wieder die Stimme der Frau. Esther, das Leben muß jetzt deshalb nicht enden! Da bricht es aus Esther heraus: Was wissen sie schon von meiner Not!? Viel, denn ich weiß wie es sich anfühlt, wenn man sein Augenlicht verliert.
Ach ja, wie denn? Man fühlt sich vom Leben betrogen und bedroht, die Leere in einem frißt sich immer tiefer in einen hinein. Bis man glaubt, man würde nichts mehr außer Hoffnungslosigkeit in sich spüren. Esther, glaube mir, das Leben geht weiter und man kann trotz Handicap ein erfülltes Leben haben. Wie denn, schrieh Esther hervor!
Was bin ich denn jetzt noch? Nichts, außer ein Häufchen Elend.
Ja, sicher, dass ist im Augenblick noch der Fall, aber es kann sich ändern. Der Blindenverein stellt ein umfangreiches Angebot bereit.
Nein, ich will das nicht...! Schmetterte Esther ihr trotzig entgegen!!!
Du, ich verstehe Dich sehr gut, daß Du innerlich auf alles und jedes wütend bist. Esther fing an zu weinen und trat gegen das Bett. Bitte lassen Sie mich bloß mit Ihrem Blindenverein in Ruhe, schrie sie voller Wut heraus! Hey…, Esther, gib Dir bitte einen Ruck!
Ich will wieder sehen können und frei sein! Wie kann ich dies als Blinde? Mich beunruhigt die ständige Dunkelheit. Die Vorstellung von nun an nicht mehr den leuchtenden Himmel im Sommer sehen zu können oder den Himmel in der Nacht, wenn sich dort oben die Sterne begrüßen, treibt mich zum Wahnsinn ...!
Frau Fröhlich trat zu ihr heran und legte eine Hand besänftigend auf ihre Schulter. Ja, ich verstehe Deine Verzweiflung sehr gut! Beide standen nun im Zimmer und sagten erstmal kein Wort mehr.
Erneut versuchte die Frau vom Blindenverein mit Esther in Kontakt zu treten.
Esther, ich möchte Dich dennoch gern zum Jugendclub einladen. Der findet einmal wöchentlich statt.
Dort treffen sich Mädchen und Jungen in Deinem Alter.
Dein Vater hat mir schon zu gesichert, er wird Dich dorthin bringen und auch wieder abholen, so lange Du den Weg dorthin noch nicht allein bewältigen kannst.
Wie, man kann in diesem Zustand allein hinausgehen? Ja, es gibt Hilfsmittel die Dir das dann ermöglichen. Manche Blinde ziehen es vor, einen Blindenführhund zu nehmen., andere wieder einen weißen Langstock. Dafür gibt es dann Trainer, die einem zeigen wie man sich mit einem Führhund oder einem Langstock im Straßenverkehr fortbewegt. Nein, das geht nicht! Bitte hören Sie auf, mir so etwas zu erzählen!
Die Frau nahm die Hand von Esther und führte sie zu ihrem Gesicht. Esther wollte ihre Hand schon wegziehen da erfühlte sie eine Brille in deren Gesicht. Ja, ich bin auch blind. Das ist keine Brille um besser sehen zu können; sie verdeckt meine blinden Augen, die durch einen Autounfall völlig deformiert worden sind.
Wie lange ist dass schon her, flüsterte Esther?
Jetzt sind es schon 10 Jahre, die ich blind bin.
Mit 18 Jahren verlor ich mein Augenlicht. Ich hatte gerade meinen Führerschein bestanden und wollte mit meinen Freunden eine Spritztour unternehmen. Da fuhr mir ein LKW ins Auto.
Aus war der Traum vom Führerschein.
Viele Monate musste ich deshalb im Krankenhaus verbringen. Innerlich hielt ich daran fest, man würde mich wieder sehend machen. Ich wollte den Tatsachen nicht ins Auge schauen. Es gibt für Dich keine Hoffnung mehr, sagte der Arzt. Nein, rief ich dem Arzt entgegen, sie irren sich, es wird sicher eine Möglichkeit geben, daß ich wieder sehen kann!
Mein Freund konnte diesen Belastungen nicht standhalten und suchte Trost bei meiner besten Freundin. Ich weinte täglich viele Stunden wegen des Verlustes meines Augenlichtes und meines Freundes, bis mich eines Tages eine Frau vom Blindenverein aufsuchte und mich dann über mehrere Wochen im Krankenhaus besuchte.
Durch sie habe ich wieder zu mir selbst gefunden und fing dann auch an aktiv im Blindenverein mitzuwirken. Mein Wunsch ist es, anderen Betroffenen mit meinem Beispiel Mut zusprechen, sich doch nicht aufzugeben.
Esther, blind zu sein, bedeutet nicht gleich, nichts mehr zu fühlen und auch nicht, nichts zu sein.
Lass es Dir zeigen, wie fröhlich und glücklich wir trotz unseres Handicaps sein können. Ich möchte Dich dabei unterstützen und werde Dir helfen, wieder ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.
Sag nicht gleich von vornherein nein. Komm hin und überzeuge Dich selbst von dem, dann kannst Du Dich immer noch in Deinem Zimmer verschanzen.
Esther hatte der Frau gebannt zugehört und drückte nun die Hand der Frau fester in ihrer Hand. Also gut, ich werde mir den Jugendclub ansehen!
Schön, erwiderte die Frau und beim hinausgehen legte sie ihr noch eine CD in den Schoß. Hör sie Dir ruhig an, dann erfährst Du mehr über den Verein, also dann bis Samstag. Frau Fröhlich bitte
warten Sie noch ein Moment, ich möchte noch wissen, für welches Fortbewegungshilfsmittel haben Sie sich eigentlich entschieden? Für einen Blindenführhund. Und wo ist Ihr Hund im Moment? Unten bei Deinen Eltern im Wohnzimmer.
Also dann bis Samstag Frau Fröhlich!
Über Esthers Lippen huschte ein zaghaftes Lächeln wie schon seit jenem entsetzlichen Erwachen nicht mehr.