Leicht ist das Schreiben für mich jedoch nicht, denn wie bereits im Vorwort erwähnt, war für mich der geregelte Schulbesuch so gut wie unmöglich. Ein Regierungssystem (das dritte Reich) war dafür die Ursache. Eingeschult wurde ich im Jahre 1941. Bei einem der ersten Luftangriffe auf Berlin wurde unsere Schule in Mitleidenschaft gezogen. Ein geregelter Unterricht konnte nicht mehr abgehalten werden. So vergingen Monate, bevor die dafür zuständigen Behörden die betroffenen Kinder in anderen Schulen unterbringen konnten. Zumal noch andere Schulen durch sich häufende Luftangriffe so nach und nach in die gleiche Lage gebracht wurden. Zwar waren die Luftangriffe, die in einer Woche von den feindlichen Geschwadern auf Berlin geflogen wurden, am Anfang noch sehr gering, sie waren an einer Hand abzuzählen. Es blieb jedoch nicht so, die Luftangriffe wurden immer stärker und intensiver, so wurde der Unterricht in vielen Schulen schließlich ganz eingestellt. Ob es jedoch nur an den Luftangriffen lag, kann ich nicht beurteilen. Möglich ist es aber auch, dass alle jungen und wehrdiensttauglichen Pädagogen ihr Vaterland verteidigen mussten und zur Waffe gezwungen wurden. Dem Diktator war es wohl wichtiger, seine Lehrer an der Front den Kugeln zu opfern, als eine Zukunft mit gut ausgebildeten Menschen zu gestalten. Dumme Menschen sind besser als Objekte zu nutzen, Subjekte denken mit und sind schwere zu leiten oder zu manipulieren. Ich weiß nicht, ob es zu dieser Zeit auch schon eine Schulpflicht und das Recht auf Ausbildung gab. Wenn es das gab, dann wurde ich von einem Regime um dieses mir zustehende Recht betrogen. Mit Stolz kann ich behaupten, dass ich drei Jahre die Schulbank drücken durfte. Nicht nur, dass die Luftangriffe auf Berlin diese, nicht wieder gut zu machenden Schäden, verursacht haben, nein, auch Furcht und Angst als Lebensbegleiter, mussten wir kennen lernen. Heute - so denke ich - können sich Menschen, die keinen Krieg miterlebten, gar nicht vorstellen wie groß die Angst in einem Luftschutzkeller ist. Wir, meine Mutter, mein Bruder und ich, lebten zu der Zeit in Kreuzberg am Oranienplatz in einer Mansardenwohnung. Die Angriffe der englischen und amerikanischen Luftwaffe auf Berlin waren nun schon am späten Nachmittag, wenn es anfing dunkel zu werden. Sie waren immer recht unregelmäßig. Aus diesem Grund konnte sich kein Mensch im Voraus darauf einstellen. Wir saßen dann abends in der Küche und hörten unserer “Göbbelsschnautze“ zu (Der damalige Volks-Empfänger, ein Radio, hatte diesen schönen Namen.). Bis die Ansage kam - ich habe sie heute noch in den Ohren - „Feindliche Kampfgeschwader überfliegen den Luftraum Hannover - Braunschweig, mit einem Luftangriff auf Berlin ist zu rechnen“. Dann dröhnten auch schon die Sirenen. Heute noch sehe ich diese blechernen pilzförmigen Geräte auf hohen Gebäuden stehen, sie machen mir immer noch Angst. In ländlichen Gegenden sind sie heute noch für Feueralarm-Meldungen in Betrieb. Schon alleine der Anblick dieser Geräte erinnert mich immer an die Luftangriffe und ich sehe mich mit der Familie in den Keller eilen. Diese Bilder habe ich dann immer vor Augen und kann sie auch nicht aus meinen Gedanken löschen. Ich musste sie einmal hören, ein fürchterliches Gefühl bekam ich in der Magengegend. Ich kann diese Töne heute noch nicht hören, ohne ein Gefühl der Angst zu empfinden. Mit Koffern bepackt gingen wir die fünf Etagen hinunter in den Keller, den wir oft erst erreichten, als aus der Ferne schon die ersten Detonationsgeräusche zu hören waren. Der Keller gab uns auch nicht das Gefühl der Sicherheit, und konnte die Ängste nicht lindern oder verdrängen. Ca. 25 qm war dieser Kellerraum und 20 Personen mussten sich darin aufhalten, noch dazu diverse Gepäckstücke, die jeder Mieter mit in den Keller genommen hatte. Eine kleine Karbidlampe war unser einziges Licht, was auch nicht gerade eine positive Stimmung erzeugte. An den Wänden der Kellerräume standen selbst zusammengenagelte Bänke. Doch die waren nur für die älteren Personen. Wir mussten immer stehen, egal wie lange der Alarm dauerte. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich des öfteren, wenn wenig Detonationsgeräusche zu hören waren, im Stehen eingeschlafen bin, wenn wir drei- oder sogar viermal in einer Nacht den Keller aufsuchen mussten. Angst war unser ständiger Begleiter, die Schutzräume waren auch nicht als einladend und gemütlich zu bezeichnen, eher bedrückend. Bombeneinschläge, die ganz in der Nähe waren, versetzten uns oft in fürchterliche Ängste, wenn die Kellerwände bebten, der Boden sich hob und der Kalk von der Decke rieselte. Menschen weinten, andere schrieen, es war oft fürchterlich. Auch die Gespräche, die wir mit anhören mussten, waren alles andere als tröstend und beruhigend. „Jetzt hat es unser Haus getroffen, wie kommen wir hier wieder raus, wird man uns überhaupt finden, wie sieht es da draußen aus?“ So wurde sehr häufig eine Panik ausgelöst. Da kamen einem Bilder in den Kopf, wie ich sie mir damals als Kind oft vorstellte, verschüttet zu sein, niemals wieder raus zukommen und elendig verhungern und verdursten zu müssen, sogar in Träumen verfolgten mich diese Bilder, die sich zu Alpträumen entwickelten und noch Jahre anhielten. Ich denke, auch darin den Grund zu sehen, dass ich bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr Bettnässer war. Das waren nervlichen Belastungen und diese machten es mir unmöglich, nur eine einzige Stunde in der Schule dem Unterricht zu folgen. Ich denke, dass war auch einer der Gründe, warum die Schulen ihren Unterricht gänzlich eingestellt hatten. Wir hatten nun viel Zeit und zum großen Teil auch Langeweile. So konnten wir einem zu der Zeit üblichen Hobby intensiv nachgehen. Für fast alle Kinder in meinem Alter gab es keine bessere Beschäftigung, als das Suchen von Granatsplittern. Später war es nicht mehr notwendig, sie zu suchen, wir brauchten sie einfach nur noch aufzuheben, so massenhaft lagen sie auf den Straßen rum. Anfangs war das Sammeln dieses Kriegsmülles ein richtiger Wettbewerb und jeder war stolz, wenn er der Sieger war und den größten Granatsplitter gefunden hatte. Zuerst steckten wir diese Souvenirs in unsere Hosentaschen, später konnten wir es nicht mehr, denn die Hosentaschen waren alle von den scharfen Spitzen der Granatsplitter zerfetzt. So sammelten wir sie dann in Büchsen oder gar in Eimern. Wir schütteten sie einmal alle auf einen Haufen; unvorstellbar, was da zusammen kam. Ein vorbei kommender Passant gab uns den Tipp, wir könnten die Granatsplitter zum Altmetall-Händler tragen, da käme ganz schön was zusammen und wir könnten uns etwas Schönes zum Spielen kaufen. Diesen Vorschlag nahmen wir dankend an und brachten alle gesammelten Granatsplitter zum Altwarenhändler. Ich weiß heute nicht mehr, was wir dafür bekamen, aber es wurde bis auf den Pfennig genau geteilt. Spielzeuge, die wir uns kaufen konnten, waren alles Dinge, die zum Kriegspielen animieren sollten. Flugzeuge, Panzer, Soldaten und alles, was es im realen Krieg auch gibt. Ich denke, auch darin eine Methode zu erkennen, Kindern das Kriegspielen nahe zu bringen und schmackhaft zu machen. Der Altwarenhändler sagte uns dann, alte Lumpen, Papier und Flaschen könnten wir auch zu ihm bringen. Darauf setzten wir diesen Vorschlag sofort in die Tat um, denn es war etwas Neues in unserem Zeitvertreib, abwechslungsreicher und nicht mehr so eintönig. Ich erklärte mich bereit, Lumpen zu sammeln und ging mit einem Sack ausgestattet, sofort los Im Nachbarhaus sagte mir eine Mieterin, dass im Hinterhaus ein Schneidermeister wohnt. Diesen Hinweis nahm ich dankend an und suchte den Mann gleich auf. Nach kurzem Läuten wurde mir die Tür geöffnet und ein älterer Mann, den ich vorher noch nie gesehen hatte, stand vor mir. Ein Mensch, wie ich mir meinen Großvater immer vorgestellt habe. Ein grauer, halblanger, sehr gepflegter Bart machte ihn noch interessanter für mich. Vielleicht trage ich heute auch aus diesem Grund so einen Bart. Sehr verdutzt und überrascht stotterte ich meine Frage nach den begehrten Lumpen über die Lippen. Er bat mich einzutreten mit den Worten, er würde nachsehen und mir einige Lumpen zusammensuchen. Trotz der Warnung meiner Mutter im Bezug auf Fremden - die Worte, die jede Mutter ihren Kindern sagt - habe ich die mir fremde Wohnung betreten. Mein Gefühl sagte mir, dass das ein guter Mensch war, der da vor mir stand. Was mich aber sehr irritierte und verwirrte, war ein gelber Stern an seiner Weste, ein Symbol, was ich schon sehr häufig bei anderen Menschen auf der Straße gesehen hatte. Ich konnte jedoch damals nichts mit diesem Zeichen anfangen, trotz der Inschrift “Jude“, wusste ich nicht, was dieser Stern für eine Bedeutung hatte. Ich wusste nur, dass mit diesen Menschen etwas Besonderes ist. Das Besondere musste ich dann einige Monate später erfahren. Während der Schneidermeister die von mir begehrten Lumpen zusammen suchte, entwickelte sich ein Gespräch. Dabei habe ich erfahren, der Mann hat eine Familie, nur lebte seine Frau und sein erwachsener Sohn zur Zeit in Kanada und sie würden nach dem Krieg wieder zu ihm zurück kommen. Einen sehr traurigen Eindruck machte er immer auf mich, wenn er von seinen Angehörigen erzählte und ich glaubte sogar, in seiner Stimme zu hören, dass er ein Weinen mit aller Kraft unterdrückte, damit ich nicht bemerkte, wie stark ihn das alles berührt. Er hatte einen schwer aussprechbaren Namen. Bei einem späteren Besuch sagte er mir, nenne mich einfach Onkel Abraham. Als er mir die Lumpen zusammengepackt hatte, schnürte er sie noch zu einem Paket. Ich konnte den Mann einfach nicht aus den Augen lassen. Als ich dann ging und mich verabschiedete, fragte ich ihn, ob ich noch einmal wieder kommen darf, worauf er sagte in vierzehn Tagen hätte er bestimmt wieder ein Päckchen Lumpen beisammen. Ich bedankte mich und das nicht nur einmal, ich wollte diesem Mann etwas sagen, nur fand ich nicht die richtigen Worte und mehr als „Danke“ konnte ich nicht sagen. Als ich ging, hatte ich das Gefühl, als würde ich diesen Mann schon lange kennen. Zu Hause erzählte ich meiner Mutter von der neuen Bekanntschaft, meine Freude konnte ich nicht für mich behalten, die wollte ich mit jemand teilen. Meine Mutter war jedoch nicht begeistert von meiner neuen Bekanntschaft und hatte Einwände, die sie mir mit einer kurzen, für mich unverständlichen Erklärung mitteilte, „Lass das bitte sein und geh dort nicht mehr hin, du machst uns nur Ärger!“. Diesen Wunsch konnte ich meiner Mutter nicht erfüllen. Irgendetwas trieb mich wieder zu diesem Mann. Mir sind zwei Wochen noch nie so langsam vergangen und vor Ablauf dieser Frist ging ich ihn wieder besuchen. Er öffnete mir mit einem Lächeln im Gesicht die Tür, doch eine gewisse Traurigkeit war in seinem Lächeln versteckt, ich spürte es. An diesem Tag habe ich ziemlich lange bei Onkel Abraham gesessen und wir haben viel geredet. Ich hatte das Gefühl, es tat ihm gut, mit einem Menschen zu reden. Auch die letzte Nacht, mit dreimaligem Alarm, war ein Thema, worüber wir geredet haben. Da habe ich erfahren, dass es den Juden damals untersagt wurde, die Luftschutzräume in den Kellern zu betreten. Es ist, wie er sagte, ein grausamer Krieg. Zu viele Menschen müssten sterben, ihr Leben einer sinnlosen Sache opfern. Aber ich würde das doch noch nicht verstehen, womit er Recht hatte. Doch ist es mir nie aus dem Kopf gegangen, worüber ich mich mit diesem Mann unterhalten habe. „Komme bitte nicht so oft zu mir, es kann dir und deiner Familie großen Ärger bereiten.“ Ärger, Ärger, aber warum? Immer wieder hörte ich diese Worte, doch es gab mir kein Mensch eine für mich verständliche Erklärung. Einige Wochen später musste ich eine schreckliche Erfahrung mache, die ich bis heute nicht vergessen konnte. Mir kommt es so vor, als sei das alles erst gestern passiert. Eines Tages, nach meinen letzten Besuch bei dem Schneidermeister, war ich auf dem Weg zu einem Freund und als ich die Haustür öffnete, sah ich vor dem Nachbarhaus einen LKW stehen. Die Plane war hochgeschlagen und die Ladeklappe runter, so dass ich die Menschen sehen konnte, die auf dem Wagen waren. Frauen, Männer und auch Kinder, einige weinten, Kinder schrieen, andere sprachen tröstende Worte, um die Kinder auf dem Wagen zu beruhigen. Wie viele Menschen auf dem Wagen waren konnte ich nicht schätzen. Für mich waren es, wie ich es heute sehe, zuviel. Kartons und Koffer standen auf der Ladefläche, die Leute hatten sie zwischen ihren Beinen zu stehen. Am Lastwagen standen zwei schwarz gekleidete Soldaten (SS), genauso an der Haustür, alle trugen einen Karabiner in der Hand. Warum mir plötzlich diese Gedanken kamen, kann ich nicht erklären, ich habe einfach nur diese Angst gespürt, Angst um Onkel Abraham. Denn die Menschen auf dem Lastwagen hatten alle den gleichen gelben Stern an Ihrer Kleidung, wie er auch an der Weste des Schneiders war. Auch einige Nachbarn standen vor dem Haus, um zu sehen, was dort passierte. Es dauerte nicht lange und meine Ahnung wurde bestätigt. Als sich die Haustür öffnete, sah ich ihn, wie er aus dem Haus geführt wurde: meinen väterlichen Freund, rechts und links flankiert von zwei schwarz gekleideten und bewaffneten Soldaten. Er trug zwei Koffer in den Händen, die ich oft in seiner Wohnung auf dem Flur stehen gesehen hatte. „Willst du auch verreisen?“, fragte ich ihn mal mit einem Blick zu den Koffern, worauf er mir sagte: „Vielleicht muss ich es einmal“. Mit diesen Koffern konnte er nicht sehr schnell laufen, seinen Begleitern war das wohl zu langsam, denn sie stießen ihn vorwärts, so dass er beinah stürzte. Ich fragte die Männer: „Warum stoßt ihr Onkel Abraham so? Er kann doch mit den schweren Koffern nicht so schnell laufen.“ Ich wollte noch auf ihn zugehen und irgendetwas tun, damit sie ihn mir nicht wegnehmen, doch ich wurde von den Soldaten unsanft bei Seite gestoßen. Musste dann die Worte hören, „Willst wohl auch mit, du Judenfreund?“ Der alte Mann kam wohl nicht schnell genug auf den Wagen und so haben sie ihn fast raufgeworfen, wie ein Stück Vieh wurde er verladen. Dabei fiel noch seine Brille zu Boden. Meine Zurufe: „Seine Brille, seine Brille!“ wurden zwar gehört, aber einer der Soldaten lächelte nur und als ich dachte, er hebt sie ihm auf, hob er nur sein Fuß, stellte ihn auf die Brille und machte eine drehende Bewegung mit den Worten: „Die braucht er nicht mehr!“ Die Soldaten stiegen mit auf den Wagen, die Klappe wurde geschlossen, nur die Plane blieb oben und so konnte ich sehen, wie der Wagen davon fuhr. In den Augen des Schneiders glaubte ich, Tränen zu erkennen. So habe ich meinen väterlichen Freund verloren, den ich noch gar nicht lange kannte.
Damit die Schule nicht zu sehr vernachlässigt wurde, hat man meinen Bruder und mich nach Bayern evakuiert. Vielleicht aber auch noch aus einem anderen Grund. Wir sollten leben und dem System erhalte bleiben. Hitler brauchte uns später für seine Weltherrschaft. Auf jeden Fall waren wir dort vor den nächtlichen Luftangriffen sicher. Doch als Preuße in Bayern war es für mich mit der Schule auch nicht so einfach. Der Dialekt war mir unverständlich, so konnte ich in den ersten Wochen kein Wort von dem verstehen, was der Lehrer den Schülern sagte. Auch das war sehr deprimierend für mich. Aber vor allem die Mitschüler haben mich nicht für voll genommen und schon gar nicht als dazugehörig angesehen. Ich wurde ausgelacht, es wurde über mich geredet, makabere Späße machten sie mit mir. Ich weiß noch, dass ich sehr oft weinend nach Hause rannte. Doch auch hier fand ich kein Verständnis, wurde sogar da noch gehänselt und geärgert. Ich habe dann nur noch Unsinn gemacht, wollte Aufmerksamkeit und Anerkennung finden. Wenn etwas zu Bruch ging, dann war es der kleine Preuße. Langsam verstand ich die Sprache der Leute dort und es kam zu einem erträglichen Verhältnis. In der Schule war ich außerdem nicht mehr der schlechteste Schüler. Auch störte es mich nicht mehr, dass es eine übliche Dorfschule war, die nur aus zwei Klassen bestand. In der einen wurden Kinder von der ersten bis zur vierten Klasse unterrichtet. In der anderen unterrichteten sie die letzten vier Schuljahrgänge. Die Schule machte mir wieder Spaß und mit dem Lernen hatte ich keine Probleme. Doch war unser Aufenthalt in Bayern nicht für immer oder bis Kriegsende vorgesehen, denn nach 13 Monate mussten wir wieder nach Berlin zurück. Der Abschied von unseren Gasteltern ist mir nicht leicht gefallen. Am liebsten wäre ich länger geblieben, denn wir hatten ein ruhiges Leben kennen und schätzen gelernt. Ein Leben ohne Fliegeralarm, ohne Angst vor Bomben und Luftschutzräumen und vor allem ein Leben ohne Entbehrung. Wir konnten mit gefüllten Bäuchen ins Bett gehen und wurden nicht durch das Knurren unserer Mägen geweckt, denn Hungern haben wir total vergessen. Mein Bruder wurde noch ein zweites Mal verschickt. Da ich noch keine zehn Jahre alt war, nicht der Hitlerjugend angehörte, durfte ich nicht mit. Es war ein KLV-Lager (Kinder-Land-Verschickung), nur Jungs, die in der HJ waren, durften dorthin. Die Jungen wurden im Lager auch unterrichtet, von einem Parteiangehörigen SA. Das Lager war nicht weit von Berlin entfernt, ca. vier bis fünf Eisenbahnstunden in Niederschlesien. Kurz vor Grünberg war das Lager in einer ehemaligen Dorfschänke einquartiert. Meine Mutter besucht meinen Bruder einmal und nahm mich mit, es sollte nur ein Besuch übers Wochenende sein. Für mich wäre es ein Traum gewesen, wenn ich bei meinem Bruder und den anderen Jungs leben dürfte, denn dort gab es auch keine Luftangriffe. Diesen Wunsch teilte ich meiner Mutter mit und sagte ihr: „Ich fahre nicht mehr mit nach Berlin zurück!“ Bis heute weiß ich nicht, wie mir meine Mutter diesen Wunsch erfüllte. Ich weiß nur noch, dass sie erst zwei Tage später nach Berlin zurück gefahren ist und ich dort bleiben konnte. Im Lager war ich der Jüngste, da ich aber trotzdem dazu gehörten wollte, musste ich mich anpassen, an allen Aktivitäten, sportliche Betätigungen, Orientierungs- und Geländespielen teilnehmen. Auch bei Ernteeinsätzen, die wir bei den ortsansässigen Bauern durchführten, konnte ich mich nicht ausschließen, Heu wenden, Kartoffel-, Rüben- oder, Getreideernte, bei jeder Art Tätigkeit musste ich meinem Mann stehen. Niemand hat Rücksicht genommen, was ich auch nicht wollte. Mir war es nur recht so, ich wollte dazu gehören und nur das war die Möglichkeit, zu zeigen und zu beweisen: ich kann es auch, ich schaffe es. Mit starkem Willen habe ich es den Jungs gezeigt, ich gehörte dazu und ich wurde anerkannt und im Lager von allen Jungs akzeptiert. Nur in der Dorfschule nicht, da war und da blieb ich ein Außenseiter, da fand ich keine richtigen Freunde. Auch dort wäre ich gerne länger geblieben, was aber den Herrn Adolf Hitler oder Stalin nicht interessierte. Sie führten ihren erbitterten, sinnlosen und Tod bringenden Krieg weiter. Die Front zog sich immer weiter nach Westen und näherte sich mehr und mehr unserem Aufenthaltsort. Eines Nachts hörten wir von fern Geräusche, wie wir sie oft zu Hause in Berlin bei Luftangriffen gehört haben. Am Morgen darauf wurde uns von der Lagerleitung erzählt, in Grünberg war Fliegeralarm. Da am Tage nichts zu hören war, beruhigten wir uns wieder und glaubten den Worten der Herren. In der darauf folgenden Nacht war es wieder zu hören, alle waren der Ansicht, es war lauter und sogar deutlicher zu hören. So als sei nichts geschehen, wurde der darauf folgende Tag wie alle anderen begonnen, aufstehen, waschen, anziehen, raustreten zum Fahnenappell, alles wie immer. Doch über die vergangene Nacht, wurde kein Wort gesprochen. Unser Lagerleiter machte jedoch einen recht unglücklichen und bedrückten Eindruck. Sogar beim Fahnenappell bekam er seinen Arm nicht mehr ganz so hoch, wie wir es von ihm sonst gewohnt waren. In der Schule wurde auch schon geredet, dort sagten sie, die Front sei kurz vor Grünberg. Ich konnte mich von keinem meiner Klassenkameraden verabschieden, denn zu plötzlich kam unsere Abreise. Als ich nach Schulschluss ins Lager zurückkam, wurde uns nach dem Mittagessen mitgeteilt, wir möchten unsere ganzen Sachen zusammen packen, denn wir fahren heute noch nach Berlin zurück. Den Befehl hatte die Lagerleitung am Vormittag bekommen. In zwei Stunden würden Autos da sein, die uns zum Bahnhof bringen. Der Aufbruch war mit einer Flucht gleich zu setzen, hektisches Packen und Suchen begann, keiner wollte etwas vergessen. Die Zeit zum Packen reichte nicht aus, viele Sachen wurde vergessen oder liegengelassen. Die beiden LKWs standen innerhalb einer Stunde vor dem Lager und wir mussten dort weg. Es waren die gleichen Autos, die ich in nicht so guter Erinnerung hatte. Genau so ein Wagen stand einmal vor unserem Nachbarhaus und es kamen mir gleich wieder Angst einflößende Gedanken. Tränen liefen mir plötzlich über die Wangen, ich konnte sie nicht zurückhalten. Die Kameraden konnten nicht verstehen, warum ich zu weinen anfing, sie kannten ja auch nicht meine Gründe und Gedanken, wussten nichts von meinem Erlebnis. Ich wurde von einen der Soldaten auf den Wagen gehoben, nicht wie der Schneidermeister wie ein Stück Vieh behandelt, wodurch die Angst aber noch lange nicht beseitigt war. Die Fahrt zum Bahnhof war eine Fahrt mit reichlichen Hindernissen. Wir mussten eine Hauptstraße überqueren, die voll mit Menschen auf Pferdewagen und zu Fuß mit Handwagen unterwegs waren und die sich alle nur in eine Richtung bewegten - nach Westen. Bis zum Bahnhof sind wir den ganzen Nachmittag gefahren und kamen erst in den Abendstunden an. Sehr oft sind wir vorher mit einem Bauern zum Bahnhof gefahren, da benötigten wir kaum zwei Stunden hin und zurück auf einem Pferdewagen. Auf diesem kleinen Bahnhof war ein ungewöhnlich starker Betrieb. Menschen, die auf der Flucht vor den Russen waren, suchten eine Möglichkeit in Richtung Berlin, nur weg von dort. Auch wir warteten auf einen Zug, der uns nach Hause bringen sollte. Der erste Zug in Richtung Berlin verlangsamte nur seine Geschwindigkeit, hielt aber nicht an. Überfüllt waren alle Züge in Richtung Berlin, die Personenwagen waren überfüllt mit verwundeten Soldaten, die Güterwaggons am Ende des Zuges mit flüchtenden Menschen. Wie viele Züge in der gleichen Art an uns vorbei gefahren sind, kann ich nicht mehr sagen. Der Lagerleiter machte es irgendwie möglich, dass für uns ein Personenwaggon auf ein Nebengleis gestellt wurde, worin wir etwas geschützt abwarten konnten, bis sich eine Möglichkeit ergab, den Waggon an einen Zug in Richtung Berlin anzuhängen. Am darauf folgenden Morgen wurden wir durch quietschende Bremsen geweckt, die ein anhaltender Zug verursachte. Da wir dachten, jetzt geht es nach Hause, schauten wir aus dem Fenster um etwas zu sehen. Was wir sehen mussten, war eine furchtbare und grausame Hinrichtung. Vier sogenannte Kettenhunde (die Militärpolizei bei der deutschen Wehrmacht, auch als Feldjäger bekannt) sowie zwei Soldaten der Waffen-SS zerrten einen noch sehr jungen, leicht verwundeten Soldaten auf den Bahnsteig, genau unter das Hinweisschild, wo die Fahrtrichtung der Züge angezeigt werden. Dort wurde ein Strick befestigt, ein Stuhl darunter platziert, der Soldat mit auf den Rücken gefesselten Händen raufgehoben. Danach legten sie ihm die Schlinge um den Hals und der Stuhl unter seinen Füßen wurde weggetreten. Ich kann heute nicht mehr sagen, wie lange dieser junge Mensch dort mit dem Tod kämpfte, bis er bewegungslos am Seil hing. An seiner blutigen und zerschlissenen Uniformjacke war ein gut lesbarer Zettel befestigt, der die Erklärung geben sollte, dass er ein Vaterlandsverräter sei. Ich hörte noch, wie ein Soldat aus diesem Zug sagte, das hätten sie bis jetzt auf jedem Bahnhof, mit einem Soldaten gemacht. Unser Lagerleiter war seit diesem Augenblick für mich ein Ungeheuer, denn er sagte: „Seht euch das genau an, so gehen gute Deutsche mit Feiglingen um.“ Das waren Worte, die sich so fest in mein Gehirn gesetzt haben, dass ich sie nie vergessen konnte. Wenn das gute Deutsche waren, die das getan haben, soll ich dann stolz sein, dass ich ein Deutscher bin? Heute noch sehe ich die Hinrichtung dieses Soldaten, wenn ich irgendwann oder -wo-, einmal die Worte höre, ich bin stolz, ein Deutscher zu sein und so wurde mir mein Nationalstolz genommen. Nun waren wir schon ca. 36 Stunden auf dem Bahnhof und warteten immer noch auf einen Zug, an den unser Waggon angekoppelt werden sollte. Die ganze Zeit, bis wir von dort wegkamen, mussten wir den leblosen Körper des Soldaten an dem Schild hängen sehen. Nach Fahrplan fuhren die Züge schon lange nicht mehr, Doch es kamen immer noch welche und so durften wir hoffen, auch einmal von dort weg zu kommen. Die Züge wurden oft von russischen Tieffliegern angegriffen. Zwar mehr die, die in Richtung Osten unterwegs waren aber auch die Züge, die in die andere Richtung rollten, wurden nicht verschont. Die Geräusche detonierender Granaten waren auf dem Bahnhof deutlich zu hören. Als spät am Abend des zweiten Tages ein Zug mit nur drei Waggons in den Bahnhof einrollte, da wurde unser Waggon mit angekoppelt. Uns erzählten die Passagiere in diesem Zug, die restlichen Waggons wurden von einer Bombe oder Granate getroffen, darum war er so kurz und wir konnten angekoppelt werden. Wie viele Menschen mussten dabei ihr Leben lassen, damit wir heimkommen konnten? Gedankenlos war die Freude über den kurzen Zug, der uns nun alle nach Hause brachte. Die Fahrt bis Berlin war nicht weit, doch sie war auch nicht ohne Komplikationen. Wir mussten unterwegs vier oder fünf Angriffe von russischen Tieffliegern erleben. Der Zug hielt jedes Mal an und alle, die laufen konnten, mussten den Zug verlassen und sich irgendwo Deckung suchen. Wenn der Angriff vorbei war, gab der Lockführer ein Signal, dass die Fahrt weiter ging. Immer weniger Menschen erreichten den Zug noch rechtzeitig, Vielen von Ihnen war eine Weiterfahrt nicht mehr möglich, für sie war alles zu Ende. Sie blieben einfach liegen und wurden der Natur überlassen.
Es war mitten in der Nacht als der Zug Berlin erreichte, keiner der Angehörigen war von unserer Heimkehr unterrichtet. So standen wir dann alleine auf dem Bahnhof. Keiner von den Jungs wurde abgeholt. Wir wussten nicht, wie der Weg nach Hause zu finden ist. Der Lagerleiter hat sich nicht einmal richtig von uns verabschiedet und ging, ohne ein Wort an uns zu richten, seines Weges. Mein Bruder und ich fragten erst Leute auf der Straße, um zu erkunden, wo wir waren, denn so gut war uns die Stadt auch noch nicht bekannte, wir waren Kinder im Alter von 10 und 11 Jahren. Uns war nur bekannt, dass unsere Mutter nicht mehr in der Kreuzberger Wohnung lebte, sondern bei ihrer Schwester in Treptow. In der Gegend, in der meine Tante wohnte, kannten wir uns gut aus. Doch wie sollten wir in der Nacht dorthin kommen? Es gab zwar Straßenlaternen, aber sie waren alle nicht in Betrieb, wegen der Luftangriffe. Eine Frau gab uns erst die gewünschte Auskunft, sie erklärte uns sehr ausführlich den Weg nach Treptow. Wir waren Beide mit einer HJ-Uniform bekleidet, so wie es die Kleiderordnung im Lager vorgeschrieben hat. Ich denke, das war unser Glück, denn wir gingen noch keine zehn Minuten die dunklen Straßen entlang, als hinter uns ein PKW anhielt. Ein Soldat stieg aus, kam zu uns mit der Frage, was wir mitten in der Nacht auf der Straße machen. Mein Bruder erklärte es dem Soldaten mit kurzen Worten. Der ging wieder zum Auto und kam nach wenigen Minuten zurück, nahm unsere Koffer und forderte uns auf, einzusteigen. Der Herr Major hat es befohlen, sagte er uns. In diesem Auto saß wirklich ein ziemlich hohes Tier der Wehrmacht, es war an seiner Uniform und den Orden zu erkennen, mit denen er dekoriert war Wir wurden bis zum Tor der Kolonie gefahren. Der Soldat musste noch unsere Koffer bis zur Laube meiner Tante tragen und uns unserer Mutter übergeben, was er auch sehr gewissenhaft und befehlsgetreu ausgeführt hat. Ich komme nicht daran vorbei, zu erwähnen, dass es gute und hilfsbereite Angehörige bei der autoritätshörigen Armee gab. Denn wir haben selbst mitgehört, was sein Vorgesetzter ihm sagte. Wir versetzten unsere ganze Familie in Panik, denn erstens hatte mit unserem Heimkommen, Niemand gerechnet und zum anderen war der Soldat, der unsere Koffer nach Hause getragen hat, nicht gerade leise. Wir bedankten uns noch einmal alle bei diesem netten Soldaten und dann verließ er uns. Ich war gerade beim Ausziehen, um endlich ins Bett zu kommen, da dröhnten die Sirenen. Es war ein großer Schock für mich. Das Gerät stand auf der angrenzenden Pumpstation, deren Rückwand in unserem Garten endete. Und wieder mussten wir in den Bunker, jedoch Gepäck mitschleppen brauchten wir nicht, wir hatten ja im Bunker unsere eigene Kabine, die uns vor langer Zeit einmal zugewiesen wurde. An dem Bunker stand der PKW, der uns nach Hause gebracht hatte und so konnten wir die drei Soldaten noch einmal sprechen, die so nett waren und unser Problem gelöst hatten. Wir haben dann gleich bis zum nächsten Morgen im Bunker geschlafen. Einmal wurde ich kurz wach, als ein zweiter Luftangriff durch das Dröhnen der Sirenen angekündigt wurde. Die Angst war wieder da, die ich immer hatte, wenn ich im Keller saß und die Bomben explodieren fühlte, denn auch der Bunker bebte stark bei Bombenexplosionen, die ganz in der Nähe waren. Doch im Bunker war die Angst nicht ganz so groß, wir hatten ein etwas größeres Gefühl der Sicherheit. Nun war es wieder einmal mit dem Schulunterricht aus und vorbei und wie lange dieser Zustand so bleiben würde, wusste zu der Zeit kein Mensch, was ich sehr bedauerlich empfand, woran ich mich allerdings schon gewöhnt hatte. Dass ich heute lesen und schreiben kann, war meine eigene Arbeit. Mühevoll habe ich mit zwanzig Jahren angefangen, das Versäumte nachzuholen und ich denke, es ist mir fast gelungen, sogar einen Brief fehlerfrei zu schreiben. Auf die Gründe, warum ich mich so intensiv damit befasste, komme ich später noch einmal zurück. In späteren Jahren, als ich im Berufsleben stand, sagte mir einmal mein Meister, die besten Arbeitsberichte, die er auf den Schreibtisch bekam, waren von mir geschriebenen. Gesellen, die diesen Beruf erlernt und sogar einen Gesellenbrief ihr Eigen nannten, würden nicht annähernd so korrekte Arbeitsberichte schreiben, eher noch das Gegenteil, verschiedene waren sogar eine Katastrophe. Dort war ich als Heizungsmonteur-Helfer beschäftigt. Jedoch habe ich alleine einen Montagewagen im Kundendienst gefahren und sämtliche anfallende Reparaturen selbst und ohne Hilfe, ausgeführt. Ursprünglich wollte ich diese Art der Niederschrift vermeiden und alles der Reihe nach berichten um eventuelle Leser nicht zu verwirren. Ich will nun weiter mit diesem totalen Krieg fortfahren. Warum totaler Krieg? Weil das Volk bei einer Massenkundgebung gefragt wurde: „Wollt ihr den Totalen Krieg?“ und die Menge voller Begeisterung „a“ gerufen hat. Auch das ist heute noch in meinen Erinnerungen haften geblieben. Der Krieg ging nun langsam dem Ende entgegen, was auch täglich in den Nachrichten zu hören war. Die Ostfront näherte sich immer mehr der Hauptstadt. Die Oder war von der Rotenarmee schon lange überschritten. Den Deutschen Soldaten konnte man den Vorwurf nicht machen, er sei ein Feigling. Ich glaube heute noch, es hat kein Soldat so verbissen gekämpft, wie es der Deutsche tat. In einem sinnlosen, irrsinnigen und nutzlosen Krieg zu kämpfen, den ein wahnsinniger Diktator führen ließ, der sich eine Weltherrschaft erträumte. Nur hatte der kleine einzelne Soldat nicht die Macht, diesen Krieg zu beenden. Hatte einer den Mut und sagte es, dann hing sein Mut irgendwo an einen Bahnhof, mit einem großen Zettel versehen. Als wir in den Nachrichten hörten, Königswusterhausen sei in den Händen der Russen, da durften wir nur noch am Tage, den Bunker verlassen, mussten aber sofort wieder reinkommen, wenn wir Flugzeuge hörten. In großen Schwärmen jagten die Tiefflieger in Richtung Stadtmitte über uns hinweg und haben alles zerstört, was nach deutscher Truppenbewegung aussah. In Berlin wurden alte Männer eingezogen, zu Einheiten, die - wie ich mich erinnere - die Bezeichnung “Volkssturm“ hatten. Ich kann mich da sogar an ein Spottlied erinnern, was wir Knirpse damals immer als einen Gassenhauer gesungen haben. Aber auch Kinder ab dem zwölften Lebensjahr wurden zur Verteidigung herangezogen. Ein entfernter Verwandter unserer Familie war knapp 14 Jahre als er im Rathaus Neukölln verbrannte, während er es mit verteidigen sollte. Das Gebäude wurde von den Russen in Brand geschossen. Für uns kamen auch noch viele Stunden der Angst, bevor wir das Ende des Krieges erleben konnten. Drei Tage durften wir dann den Bunker nicht mehr verlassen. In dieser Zeit mussten wir so einige fürchterliche Parolen mit anhören. Eine dieser Parolen machte mir Angst, denn ich habe sie geglaubt. Einige Leute sagten, unsere Soldaten lassen den Russen keinen lebendigen Deutschen, in die Hände fallen. Wir alle, die sich im Bunker befinden, würden durch Gas getötet. Heute frage ich mich, wie können sich Menschen so etwas ausdenken und verbreiten, den Menschen noch mehr Ängste zumuten? Am vierten Tag - so glaube ich mich noch zu erinnern - hörte ich dauernd die Worte, „Geil Gitler, Gitler gabuut“. Immer wieder hörte ich diese Worte und sie kamen immer näher und näher, bis ich den Sprecher dieser Worte sah - es war ein russischer Offizier. An jeder Tür der Bunkerkabinen blieb er stehen und hob mit den oben erwähnten Worten seinen rechten Arm. Da wusste ich, jetzt ist für uns der Krieg aus und vorbei und wir leben. Es gab Menschen im Bunker, die vor Freude jubelten. Es war so um die Mittagszeit, als für uns der Krieg zu Ende war. Wir Kinder wollten alle gleich raus, raus aus diesem Bunker, aber uns wurde dann klar gemacht, vor der Tür und in der Nähe wird noch geschossen. Der Krieg war noch lange nicht vorbei. Als unser Bunker von den Russen eingenommen war, wurde im Stadtkern noch hart gekämpft. Erst am nächsten Tag, als wir den Unterschlupf verlassen durften, hörten wir in Treptow immer noch die Kampfgeräusche aus der Stadt. Das Töten war auch bei uns noch nicht vorbei. Eine Mutter, deren Tochter in meinem Alter war, hatte ein sehr traumatisches Erlebnis. Die Tochter hatte mir erst vier Wochen vor Kriegsende erzählte, ihr Vater sei gefallen, ihre Mutter ist sehr traurig und spricht kaum noch. Diese Familie lag in der Kabine der unseren gegenüber. Auch ein siebzehn- oder achtzehnjähriges Mädel, die Tochter unseres Kaufmanns, (dessen Namen ich bis heute noch nicht vergessen habe) war mit in diesen Raum. Ein russischer Offizier hatte das Bedürfnis, die Tochter des Kaufmanns zu vergewaltigen. Die kleine Elisabeth, die im oberen Dreietagenbett lag, war neugierig und schaute runter um zu sehen was sich dort unten ereignete. Als sich die junge Frau dem Offizier widersetzte, ihm eine Ohrfeige gab, zog er seine Pistole und feuerte einen Warnschuss ab, den er nach oben richtete, um keinen Menschen zu verletzen, sondern nur, um die junge Frau einzuschüchtern. Doch dieser Warnschuss war nicht ohne Folgen, denn der Schuss traf tödlich, der kleinen Elisabeth genau in den Kopf. Bemerkt wurde es jedoch erst, als dem Offizier das Blut des Mädchens über die Schulter lief und die Tochter des Kaufmanns laut schrie. Der Offizier sah dann auch das Blut und ließ von der jungen Frau ab. Oft fahre ich jetzt den Dammweg in Richtung Köpenicker Landstraße entlang. Wenn ich an der Ecke Kiefholzstraße an der Ampel halten muß, sehe ich links den ehemaligen kleinen Lebensmittelladen. Eine hohe Hecke verdeckt fast das Haus und nur das Dach ist gut sichtbar. Trotz allem kommen mir dann die Erinnerungen. In diesem Haus lebte oder lebt die Frau, die sich der Vergewaltigung widersetzte. Der Tod der kleinen Elisabeth wird mir dann immer wieder bewusst. Sie war eine gute Freundin einer meiner Kusinen. Für uns war der Krieg vorbei, wir durften nun den Bunker verlassen und konnten wieder tun und lassen, wozu wir Lust hatten, konnte draußen rum stromern, uns alle Veränderungen und Zerstörungen ansehen. Und es hatte sich Einiges verändert. Auch die Laube meiner Tante war stark beschädigt. Im Dammweg, kurz vor der S-Bahnbrücke an einen Baum, der heute noch dort steht, sah ich eine toten deutschen Soldaten liegen. Es war ein noch sehr junger Mensch, die Augen standen offen und starrten blicklos in den Himmel. Niemand hatte ihm die Augen geschlossen, so wie ich es eigentlich kenne. Minutenlang stand ich dort und schaute mir diesen leblosen Körper an, eine Verletzung war nicht sichtbar. Was mich dort hielt, mich nicht loslassen wollte, das weiß ich heute nicht mehr zu sagen. Erst als Jemand sagte: „Ein so junges Leben muß so fürchterlich enden!“, da kam ich mit meinen Gedanken in die Realität zurück. Wortlos habe ich mich schnell von diesem Ort entfernt. Noch eine ganze Woche lag dieser leblose junge Mensch dort. Ich ging fast täglich daran vorbei. Doch er lag immer noch unverändert an derselben Stelle. Schmeißfliegen hatten sich schon des leblosen Körpers bemächtigt. So ist auch das ein Ort, der mich an die Grausamkeiten eines wahnsinnigen Diktators erinnert. Wenn mich der Weg, an diesem Baum vorbei führt, sehe ich mit meinem inneren Auge den toten Soldaten heute noch liegen. Jetzt, wo ich das schreibe, sind genau 59 Jahre vergangen, denn wir haben das Jahr 2003. Die ganzen Ängste, die der Krieg mit sich brachte, waren nun vorbei. Jetzt kamen andere Probleme auf uns zu. Wir hatten Hunger, Lebensmittel gab es noch nicht zu kaufen. Es war nichts da. So schnurrten und bettelten wir bei den Russen um etwas zu essen. Brot haben wir immer bekommen, wenn es auch - wie ich immer sagte - bei Kriegsbeginn in einer russischen Bäckerei gebacken wurde. Jeden zweiten Tag bekamen wir von den Russen eine warme Suppe, meisten waren es Graupen mit viel Fleisch gekocht. Eine magere Wassersuppe war das nicht, vielmehr war es das gleiche Essen, was auch die Soldaten als Verpflegung bekamen. Mit dem Koch - es ein war Mongole - hatte ich mich angefreundet, denn ich war schon damals der Ansicht, wenn gute Beziehungen vorhanden sind, so kann es nie zum Nachteil sein. Er war von meinen hellblonden Haaren irgendwie angetan und lachte immer, wenn er mich sah. Meine Haare brachte er gerne in Unordnung, lachte dann und machte mich wütend, denn ich war als Kind sehr eitel und lief immer mit sehr gepflegten Haaren rum. Um mich wieder freundlich zu stimmen, ging er zu den Rationswagen und brachte mir immer etwas mit, mal ein Stück Käse, Speck, Wurst oder auch mal Butter oder Schmalz. Jedenfalls bekam ich immer etwas von ihm, was für sieben Personen jedoch nie reichte. Der Koch liebte seinen Wodka und jeden Nachmittag musste er seinen Rausch ausschlafen. Diese Angewohnheiten habe ich mir zu Nutzen gemacht, mich dann an den Wagen geschlichen, auf dem er schlief, und habe mich sehr oft selber bedient. Zu Hause wurde zwar immer mit mir geschimpft, weil ich gestohlen habe, doch ich fand auch jedes Mal Anerkennung. Ich wusste, ich hatte für die Familie etwas Gutes getan. Da nun die Laube meiner Tante beschädigt war und wir somit keine Bleibe mehr hatten, konnten wir noch im Bunker bleiben und dort auch schlafen, wie die meisten Leute es des Nachts noch taten. Es war auch viel sicherer, mit mehreren Menschen zusammen zu sein. Gegen 20 Uhr wurde der Bunker am Abend von einer Vertrauensperson - er nannte sich Bunkerwart - zugeschlossen und wir mussten dann alle anwesend sein. Es war ungefähr eine Woche vergangen, nachdem ich den ersten Russen gesehen habe, da gab es wieder ein nie zu vergessendes Erlebnis. Wir haben schon in unseren Betten gelegen, der Bunker war schon lange verschlossen, da knallten plötzlich direkt an der Bunkertür einige Schüsse. Ein stark betrunkener russischer Soldat wollte herein und schoss auf das versperrte Türschloss, rief dabei immer wieder: „Frau komm, Frau komm raus!“, und noch einige Worte, die eindeutig sein Begehren zum Ausdruck brachte. Diese Schießerei wurde im Nachbarhaus - eine Pumpstation - worin die Kommandantur untergebracht war, gehört. Es kamen sofort einige Soldaten, um nach den Gründen dieser Schießerei zu forschen. Diese haben den Soldaten gleich festgenommen. Am Morgen nach diesem Vorfall mussten wir alle vor den Bunker treten. Ein Offizier hielt eine Ansprache von Recht und Unrecht, dass ein Unrecht auch in Russland bestraft wird. Er würde jetzt den deutschen Bürgern zeigen, wie Unrecht und Untaten in Russland bestraft werden. So oder ähnlich lautete die Rede, die in einer akzentreichen deutschen Sprache vorgetragen wurde. In der Mitte vor dem Bunker waren einige Soldaten in einer Reihe angetreten und alle mit einem Gewehr ausgerüstet. Als der Offizier seine Ansprache beendet hatte, wurde der Soldat, der nachts das Türschloss zerschossen hatte, mit verbundenen Augen von zwei anderen Soldaten an die Bunkerwand gestellt. Dann gab der Offizier ein Kommando, das keiner von uns verstehen konnte. Es was auch gar nicht notwendig. Wir alle haben die Reaktion der in einer Reihe angetreten Soldaten gesehen. Bei dem nächsten Kommando brachten sie ihre Gewähre in Schussposition. Beim letzten Befehl schließlich, welcher auch für den Soldaten an der Wand wirklich der letzte Befehl war, jagten sie dem Soldaten ihre Kugeln in die Brust. Ihm, der einmal ihr Kamerad war, der Seite an Seite mit ihnen gekämpft hat, der sogar einen Krieg mit ihnen gewonnen hatte. So musste nun ein Mensch, der getrunken hat, seine Bedürfnisse und seine männlichen Triebe im Alkoholrausch nicht im Zaum halten konnte, dafür sein Leben lassen. Wahrscheinlich nur, um uns Deutschen zu zeigen, auch wir sind mächtig und die Herren über Leben und Tod? Vor dem Bunker, zur Straße hin, war eine Hecke, wo eine Grube ausgehoben war. Die Erde war noch ganz frisch. Die 35 Meter bis zur Grube hat man ihn einfach über den Bunkervorplatz gezogen, nicht einmal getragen. Von den Füßen seiner Kameraden wurde er in die Grube getreten. Wie kann ein Mensch, nein, ein Kind war ich ja damals, so etwas je vergessen? Ein Offizier erschießt ein Kind, aus den gleichen Motiven, wie ein einfacher Soldat ein Schloss zerschießt, der Offizier darf weiterleben, dem Soldaten wird das Weiterleben verwehrt.
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